Kranenpoot.

Humoreske von Teo von Torn.
(Vergleiche dazu auch die im Text sehr ähnliche Erzählung „Der schiele Venzke”.)
in: „Indiana Tribüne” vom 07.12.1904


Der Forstmeister Prippnow, mein alter Freund und Lehrer in allen weidgerechten Dingen, war einer der wenigen wirklich friedlichen und aufgeklärten Menschen, denen unser zappeliges Nervositätszeitalter noch nichts angethan. Was man so Welt und Weltgetriebe nennt, das brauste, hastete und ächzte weitab von dem buchenumschatteten Forsthause vorüber. Dabei war Christian Prippnow nicht etwa einer jener Abseitigen, die dem großen Kinderspielplatze des Lebens den Rücken wenden, durchaus nicht. Er kam in die Stadt, wenn es sich so machte, und verschmähte es auch nicht, gelegentlich in froher Gesellschaft sich die Nase zu begießen. Zur Jagdzeit zeigte er sich dann durch Einladungen erkenntlich.

Ob er nun bei uns war oder wir bei ihm, immer war er der gleiche gutmüthige, behagliche Mensch, der allein durch seine Gegenwart jeglichen Zwist oder Meinungsstreit ausschloß. Drohte aber doch einmal eine Differenz, vielleicht um den Zolltarif oder um einen Hasen, auf den sechs Mann zugleich geschossen hatten, so erstickte er sie im Keime mit seinem Leib- und Wahlspruche: „Nie nich ärger, Kinder, immer man bloß wundern!”

Für Christian Prippnow gab es nur dreierlei, worüber er sich gelegentlich wunderte. Erstens wenn seine hohe vorgesetzte Behörde wieder mal was Geschriebenes von ihm haben wollte; zweitens wenn dem Tabakhändler in der Stadt, obwohl dieser für den alten Herrn schon die halbe Ernte von Schwedt und Umgebung aufzukaufen pflegte, die bestimmte Sorte Knaster (Extramuros Canaillos Infamos nannten wir sie) abermals ausgegangen war; und drittens über Kranenpoot.

Namentlich über Kranenpoot!

Wenn im Dorfe, wo der Forstmeister auch die polizeilichen Befugnisse eines Amtsvorstehers auszuüben hatte, etwas abhanden gekommen war — Kranenpoot. Wenn die Waldhüter auf ein Stück verludertes Wild stießen oder Schlingen fanden — Kranenpoot. Wenn überhaupt irgend etwas passirte, das gegen Recht, Gesetz und Ordnung ging — Kranenpoot!

Sobald Christian Prippnow nur den Namen hörte, machte er das grimmigste Gesicht, dessen er überhaupt fähig war, und in das Pfeifenrohr hinein knurrte er das lästerlichste Wort, das man je von ihm gehört: „Ei du verfluchtes Kaffeehaus! Den Kerl soll der Hahn picken!”!

Ganz abgesehen von der geringen Wucht dieser äußersten Zornanwandlung, hatte ich immer den Eindruck, als wenn der Grimm auch innerlich nicht ganz echt sei, als wenn ein Schalk sich dahinter versteckte und eine mühsam zurückgehaltene Belustigung.!

Dieser Verdacht sollte sich bald bestätigen.!

Eines Morgens, in aller Herrgottsfrühe, war Kranenpoot in unzweideutiger Nähe einer Schlinge betroffen worden, in der eine trächtige Häsin sich gefangen und gewürgt hatte. Die Schlinge, die Häsin, Kranenpoot, der Revierförster und ich, der ich auf meiner morgendlichen Radtour just dazugekommen war, wanderten nach dem Amtshause. Während wir in Erwartung des hochnothpeinlichen Halsgerichts, das den Dorflumpen nun endlich in aller Schwere treffen mußte, schweigsam einhergingen, hielt Kranenpoot es für höflich und angebracht, uns zu unterhalten. Mit der olympischen Gelassenheit, die ihn in den vielen Wechselfällen seines Lebens auszeichnete, plauderte er vom Wetter, von den diesjährigen Jagdaussichten und von der socialen Ungerechtigkeit. Der Kerl stieß etwas mit der Zunge an, aber er sprach wie ein Buch, und ich hatte das Gefühl, daß er uns uzte — uzte mit der Sicherheit und Gewandtheit eines Menschen, der sich seiner überlegenen Position voll bewußt ist.!

Das prägte sich auch in seiner Haltung aus, die zu den grotesken Lumpen, in die er nothdürftig gehüllt war, seltsam contrastirte. Ein hoher Fünfziger, schritt er militärisch stramm aufgerichtet, ohne den Kopf mit dem überraschend sorgfältig gekämmten Haupt- und Barthaar nach rechts oder links zu drehen.!

Vor dem Forstmeister, der natürlich das Kaffeehaus und den pickenden Hahn citirte, änderte sich die Haltung Kranenpoots nur insofern um ein Weniges, als sie noch eine gewisse wohlwollende Cordialität annahm. Er verschmähte es, sich zu vertheidigen oder sich auch nur zu entschuldigen. Die Frage, ob er die Schlinge gelegt oder ob sie durch eine eigene Verkettung von Zufälligkeiten an die betreffende Stelle gekommen, ließ er ebenso offen wie die, ob er dem Wilde absichtlich und hinterlistig nachgestellt oder ob die Häsin vielleicht aus Lebensüberdruß sich selbst erhängt habe.

Kranenpoot gab lediglich, und zwar in einem wirklich herzlichen Tone, seinem tiefen Bedauern Ausdruck, daß die Einsichtslosigkeit und der unangebrachte Uebereifer gewisser Menschen den Herrn Forstmeister abermals mit einer solchen Lappalie behelligten.

Christian Prippnow hatte sich abgewandt und sog an seiner Pfeife, daß es dampfte und roch wie aus dem Schlot einer Kienäpfeldarre. Endlich trat er dicht an den Strolch heran. „Sag mal, Kranenpoot, ist es gar nicht die Menschenmöglichkeit, daß du doch noch ein ordentlicher Mensch wirst und eine ehrliche Erwerbsthätigkeit ergreifst?”

„Nein, Herr Forstmeister, das habe ich aufgegeben.”

Er sagte das nicht etwa frech oder herausfordernd, sondern ruhig und bestimmt wie eine gefestigte, durch nichts zu erschütternde Ueberzeugung. Dann fuhr er in einem wehmütig freundlichen Biedermannston fort: „Sehen Sie, Herr Forstmeister, wir kennen uns nun schon an die dreißig Jahre. Was soll sich da noch ändern? Gegen die sociale Ungerechtigkeit und gegen das Unglück ist nicht anzuringen. Besonders wenn man so ein Pech hat wie ich. Eine Erwerbsthätigkeit — du lieber Himmel! Vor sechsundzwanzig Jahren hatt' ich einen Handel mit Uhrschlüsseln angefangen. Was geschah? Die Ankeruhren kamen auf, und ich mußte mit meinem blühenden Geschäfte in Concurs gehen. Ich bin fest überzeugt, Herr Forstmeister, wenn ich auf meine alten Tage noch Sargtischler werden wollte, es würde kein Mensch mehr sterben. Seit ich das Unglück beim Militär gehabt habe, ist es eben mit mir vorbei. Meine Zukunft, die schönsten Hoffnungen meines Lebens sind damals zerstört worden. Andre habe ich nicht mehr, außer der einen noch, daß Sie mir auf die Aussage dieser jungen Leute hin keine Unannehmlichkeiten bereiten. Aber selbst wenn Sie meine Schuld für erwiesen annehmen sollten, Herr Forstmeister,” — hier zog er die buschigen Brauen hoch und verfiel in einen bedeutungsvollen Ton —, so wissen Sie selbst, daß kein Mensch frei ist von Fehl, und daß —”

„Ei du verfluchtes Kaffeehaus! Dich soll der Hahn picken!” schalt der alte Herr mit einem verdächtigen Zucken um die Mundwinkel. Dann wandte er sich an uns. „Haben Sie denn gesehen, meine Herren, daß Kranenpoot die Schlinge gelegt oder an dem verluderten Wild sich zu schaffen gemacht hat?”

„Das gerade nicht,” entgegnete der Förster; „er stand etwa fünf Schritte abseits, aber —”

„Hm, fünf Schritt. Daraufhin kann man den Mann eigentlich nicht recht fassen. Bewegte er sich denn in der Richtung von oder nach der betreffenden Stelle?”

„Das gerade nicht; er stand still, aber —”

„Hm, hm — na, ich will dir was sagen, Kranenpoot: für dieses eine Mal magst du noch gehen, erwische ich dich jedoch wieder in einer solchen Situation, dann — dann fress' ich dich roh! Verstehst du mich, Kranenpoot!?”

Diese Redewendung, die noch niemand von uns bei dem alten Herrn gehört hatte, ebensowenig wie den ernsten gewittergrollenden Ton, schien auf den Strolch einen besonderen Eindruck zu machen. Die lächelnde Zuversicht verließ ihn. Er sah verblüfft und befangen drein. Dann riß er die Knochen zusammen und legte die Hände an die Stelle, wo er vor undenklichen Zeiten einmal eine Hosennaht gehabt hatte.

„Zu Befehl, Herr Leutnant!” stieß er hervor. Auf einen kurzen Wink machte Kranenpoot eine tadellose Kehrtwendung und verließ das Lokal. Noch auf der Diele draußen hörte man, wie seine bloßen Füße in strammem Schritt auf die Fliesen klatschten.

Alsdann entließ der alte Herr auch den Förster.

„Es ist gut, Strebel. Mag der Haderlump diesmal noch laufen. Zum Herbst, wenn die Jagd anfängt, ist er uns ohnehin sicher. Er wird dann wieder gleich für den ganzen Winter eingespunnt. Damit ist ihm und uns gedient. Für's erste wird er sich jetzt wohl auch etwas zusammennehmen.”

Als der Förster gegangen war, wandte Christian Prippnow sich an mich:

„Na, Doktor, Sie machen ja auch so 'n Gesicht wie ein hungriger Fuchs, dem eine Ente aus dem Fang gegangen ist. Wundern sich wohl, was?”

„Allerdings, ich bin einigermaßen verblüfft!”

„Ja, lieber Freund,” sagte der Alte mit einem drollig ernsten Gesicht, indem er die breiten Schultern hochzog, „wer im Glashaus sitzt, darf nicht mit Steinen schmeißen. Damit meine ich natürlich nicht Sie, obwohl Sie ja auch schon mal zur Schonzeit eine Ricke für einen Bock angesprochen haben, sondern mich selbst. Ich will Ihnen das bei dieser Gelegenheit auseinander­posamentiren, und dann werden Sie begreifen, weshalb ich den unverbesserlichen Strolch immer noch ein bischen mit Schokolade begieße. Vorerst trinken Sie mal ein Gläschen von diesem wundervollen Machandel.”

Nachdem wir getrunken hatten, wischte Christian Prippnow die gelb und braun gerauchten Lambrequins seines weißen Schnauzbartes mit dem Handrücken, sog seine Pfeife in Brand und erzählte, indem er auf seinen colossalen Filzparisern behaglich auf und ab schlurrte.

„Der Kerl hat recht, es sind dreißig Jahre her, vielleicht noch ein paar Jährchen darüber. Ich hatte als Feldjäger den Dienst quittirt und war als Oberleutnant bei den Gardeschützen eingetreten. Gleich im ersten Jahre kriegte ich einen Prachtkerl von Burschen, einen Prachtkerl, sage ich Ihnen: klug, anstellig, dabei Soldat mit Leib und Seele. Der Mensch hatte nur einen Fehler: es gab keinen Unfug, zu dem er in hellem Uebermuth nicht alleweil aufgelegt war. Passirte irgend etwas, worüber der Hauptmann tobte, die ganze übrige Compagnie aber sich scheckig lachte — Kranenpoot! Trotzdem er, wie gesagt, ein unvergleichlicher Soldat war, flog Kranenpoot alle Augenblicke in den Kasten. Damit ging er schließlich auch des Burschenbenefizes verlustig und mußte in die Front zurück. Ich weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre, wie er sich von mir verabschiedete: „Es thut mir leid, Herr Oberleutnant, aber schließlich kann ich Ihnen ja nicht ewig am Frack baumeln. Ein Bursche ist auch nur ein halber Soldat, und ich will ein ganzer werden. Ich will capituliren, Herr Oberleutnant!” Dabei leuchteten dem Kerl die Augen so stolz und zuversichtlich, daß ich anstatt des verdienten Anpfiffs ob seiner Ungebühr ihn mit guten Wünschen entließ. Leider kommt es erstens immer anders und zweitens wie man denkt. Es war im dritten Jahre, kurz vor den großen Manövern. Wir hatten den hohen Chef des Bataillons zu Besuch. Es gab eine Uebung in offenem Gelände und hinterher natürlich einen Parademarsch. Jetzt ist das wohl nicht mehr; früher aber hatte sich bei einigen Truppentheilen ein ganz sonderbarer Unfug eingenistet. Die Melodie des Präsentirmarsches kennen Sie — ramtam taramtam taara; na, schön, dieser Melodie also war ein Text untergelegt:

„Seine Majestät der König,
Einundzwanzig Pfennig sind zu wenig,
Ach gib uns doch was mehr, ach gib uns doch was mehr,
Ach gib uns doch, ach gib uns doch, ach gib uns doch was mehr!”

Was soll ich Ihnen sagen — diese Melodie pflegten ganz ausgefallene Frechdachse während des Präsentirmarsches mitzusingen. Nun ist es ja bekannt, daß dieser Marsch an unberechenbarer Stelle jäh abzubrechen pflegt. So auch damals, und ein langgezogenes „aaaach” klappte aus dem Bataillon nach. Wer das nicht miterlebt hat, Doktorchen, der kann sich von der Wirkung nur einen ganz schwachen Begriff machen. Der Major fiel um ein Haar vor Entsetzen vom Pferd; in den Händen der Häuptlinge erbebte das gezückte Schlachtschwert, und durch das Bataillon ging es wie ein Schauer. Der hohe Herr, nachdem er sich von seiner Sprachlosigkeit erholt, beauftragte den unglücklichen Commandeur, den „singenden Derwisch” festzustellen, als dann wandte er sein Roß und ritt davon.

Die Feststellung wurde gleich an Ort und Stelle besorgt. Natürlich — Kranenpoot!

Mit diesem Kraft- und Glanzstück war seine militärische Laufbahn selbstverständlich abgeschlossen. Den Rest der Dienstzeit brachte Kranenpoot bei Vater Philipp zu. Als er dann entlassen wurde, bat er mich kniefällig und mit thränenden Augen, daß ich mich für ihn verwende. Er würde ein Lump werden, wenn er nicht Soldat bleiben dürfe! Ich konnte ihm nicht helfen — und er hat sein Wort gehalten. Von Stund an ist er ein Lump geworden. Und was für einer! Dennoch bezeigte er dem Bataillon und speziell mir eine gewisse Anhänglichkeit — eine allerdings, die seinem verärgerten Wesen entsprechend manchmal in Niederträchtigkeit sich äußerte, aber doch Anhänglichkeit. Wenn ihn nicht gerade der Arm des Gesetzes gefaßt hielt, so folgte er als Schlachtenbummler einer jeden unserer Uebungen.

Bei einer solchen geschah es, daß mir in aufgelöster Schützenlinie ein Häslein über den Weg lief, Das Jägerblut kribbelte mir in den Händen. Unsere Platzpatronen hatten damals noch den Holzpfropfen. Ich riß dem mir nächstliegenden Soldaten — es war gerade mein Bursche — das Gewehr aus der Hand — und bauz! — der Hase lag im Feuer. Gleich darauf kam mir zum Bewußtsein, daß das sehr böse für mich auslaufen könnte. Dergleichen Extempores waren auf's strengste verboten. Glücklicherweise hatte nur der eine Soldat die Sache gesehen. Aber wenn man das Thier fand! Mit dem Holzpfropfen im Bauch! Der Bursche erbarmte sich meiner Rathlosigkeit und band das Vieh in sein Schnupftuch. Gleich darauf das Ganze Halt! Der Hase wurde vorläufig in eine Ackerfurche gelegt, und wir standen still. Es war noch kein weiteres Commando erfolgt, da nähert sich von hinten leise ein Stromer, nimmt das Taschentuch mit der Jagdbeute auf und raunt: „Das is schlimmer wie 'n bisken singen, Herr Oberleutnant. Den Lampe bring' ich auf's Amt! Es lebe die sociale Gerechtigkeit!”

Na, er hat ihn zwar nicht auf's Amt gebracht, sondern sich ihn wahrscheinlich in irgend einer Kaschemme braten und gut schmecken lassen, aber er reist heute noch darauf. Kranenpoot ist meine Nemesis. Nie nich ärgern, immer man bloß wundern!”

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